Hintergrundbild Deutsches Kinderhilfswerk

PP-Nummer-21 TOLERANTER SEIN!

Mehr Raum und Zeit für Kinderspiel

Im Spiel mit Anderen lernen Kinder sich kompetent zu bewegen, sie lernen soziale Kontakte zu knüpfen, sich in größeren Gruppen zu verhalten, sich durchzusetzen und Regeln einzuhalten. Beim Spiel im Wohnumfeld lernen sie selbstständig zu sein, sich und ihre Umwelt zu organisieren.

Kindern geht durch die vielen Reglementierungen, denen sie ausgesetzt sind, ein wichtiges Stück ihrer Kindheit verloren.

In vielen Bundesländern hat deshalb das Spiel der Kinder im Rahmen der frühkindlichen Bildung Eingang in Bildungspläne und Bildungsprogramme gefunden. So stellt das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen u. a. Folgendes fest: „Das Spiel der Kinder ist eine selbstbestimmte Tätigkeit, in der sie ihre Lebenswirklichkeit konstruieren und rekonstruieren. Sie behandeln die Wirklichkeit ihren Vorstellungen entsprechend; sie handeln und verhalten sich, als ob das Spiel Wirklichkeit wäre. Kinder konstruieren spielend soziale Beziehungen und schaffen sich die passenden Bedingungen. Kinder verbinden immer einen Sinn mit dem Spiel und seinen Inhalten. Sie gebrauchen ihre Fantasie, um die Welt im Spiel ihren eigenen Vorstellungen entsprechend umzugestalten.

Das Spiel ist in besonders ausgeprägter Weise ein selbstbestimmtes Lernen mit allen Sinnen, mit starker emotionaler Beteiligung, mit geistigem und körperlichem Krafteinsatz. Es ist ein ganzheitliches Lernen, weil es die ganze Persönlichkeit fordert und fördert. Im Spiel lernen die Kinder freiwillig und mit Spaß, über Versuch und Irrtum, aber ohne Versagensängste. Im Spiel stellen sie sich ihre Fragen selbst und erfinden dazu die Antworten. Das entspricht zugleich dem Prinzip der Förderung von Bildung und Weltverständnis.“

Ein voller Stundenplan, Freizeitstress und steigende Anforderungen sowohl der Arbeitswelt als auch der Gesellschaft bestimmen jedoch in vielen Familien den Alltag. Schon im Grundschulalter sind viele Kinder mit Musik- und Ballettstunden, Fußballtraining, Hausaufgaben und Nachhilfestunden in enge Zeitkorsetts gepackt und haben zu wenig Freiraum für freies Spielen und Entdecken. Besonders das Spielen draußen, im Freien und mit Freunden kommt bei zu vielen Kindern und Jugendlichen zu kurz. Dabei ist es immens wichtig.

Eltern wundern sich, wenn ihre Kinder kaum noch dazu in der Lage sind, Spiele zu erfinden und die Eltern dauernd fragen, was sie machen sollen. Sie lachen abends beim Vorlesen mit ihren Eltern über die Streiche von Michel aus Lönneberga. Sollten sie sich aber am nächsten Morgen so aufführen wie Michel, werden sie sich bald im Wartezimmer eines ADS-Spezialisten wieder finden. Tom Sawyer gälte heute wahrscheinlich als hoffnungslos schwererziehbar. Die Vergabe des Ruhigmachers Ritalin ist innerhalb von zehn Jahren um das 270-Fache gestiegen; wenn jedes vierte Kind unter acht Jahren schon bei einem Therapeuten war, sagt das mehr aus über die Ängste der Eltern als über das Wesen ihrer Kinder.

Die dank der Elternängste neu entstandene Kindersicherheitsindustrie reibt sich die Hände: Jeder dritte Achtjährige besitzt ein Telefon, damit die Eltern wissen, wo ihr Kind gerade ist. Einige Telefongesellschaften bieten Dauerüberwachung an. Ist das Kind nicht pünktlich zu Hause, können die Eltern es über ihren Computer via GPS auf zehn Meter genau verorten. Da ist es schwer, sich den elterlichen Blicken zu entziehen und im weiter entfernt liegenden Wald ein Baumhaus zu bauen.

Freiräume für Kinder sind wichtig, damit sie sich nicht verlieren in den vielen Aktivitäten des Alltags. Sie müssen Zeit haben zum Quatsch machen, um dabei zu entspannen oder zum freien Spielen, um ihren Gedanken nachzugehen oder Fantasie zu entwickeln. Denn Fantasie und Kreativität können sich nur ausbilden, wenn das Kind die Möglichkeit hat, in sich zu ruhen. Dazu braucht es Zeit und Raum, um sich zurückzuziehen, unbeobachtet von den Erwachsenen und ungestört in seiner Erlebniswelt. Eine aktuelle Studie des Deutschen Kinderhilfswerkes in fünf baden-württembergischen Kommunen stellt fest: Der Wert des Spiels wird in bildungsfernen Bevölkerungsschichten geringer bewertet. Je höher das „kulturelle Kapital“ von Eltern ist, desto eher sind sie der Ansicht, dass Spielen wichtiger als Lernen ist und zeigen eine positive Einstellung gegenüber vertretbaren Risiken. Unbeaufsichtigtes Spiel ist also nicht mehr ein Phänomen der Unterschichtskindheit, sondern wird vielmehr von bildungsnahen Familien anerkannt.

Im Schnitt 38,5 Stunden in der Woche sind Kinder in Deutschland mit Schule und Hausaufgaben beschäftigt - so viel wie Erwachsene mit einem Vollzeitjob. Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Deutsche Kinderhilfswerk und UNICEF Deutschland zum Weltkindertag 2012 veröffentlicht haben. Das Lernen im freien, selbstbestimmten Spiel mit Gleichaltrigen, in der Natur wird im Zeichen der Ganztagsschule von pädagogisch beaufsichtigten Lernorten abgelöst. Ohne die Notwendigkeit erweiterter Bildungsaufgaben in Frage zu stellen, müssen wir uns fragen, was macht das mit unseren Kindern, wenn sie keine Frösche mehr jagen, keine Mutproben mehr machen, keine Verstecke mehr finden oder keinen Streit mehr alleine ausfechten können. Kindern geht durch die vielen Reglementierungen, denen sie ausgesetzt sind, ein wichtiges Stück ihrer Kindheit verloren. Deshalb muss Kindern wieder mehr Raum und Zeit zum Kinderspiel eingeräumt werden.


Stand: 23. Juli 2014

Dieses Positionspapier ist Teil der bundesweiten Kampagne des Deutschen Kinderhilfswerkes
zum Thema Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland.
 

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