Hintergrundbild Deutsches Kinderhilfswerk

Strukturierte Sozialraumbegehung

Kurzbeschreibung:

Die strukturierte Sozialraumbegehung ist ein Beobachtungs- bzw. Befragungsverfahren, das den Fachkräften Kenntnisse und Verständnisse der verschiedenen Wahrnehmungen und Deutungen von sozialräumlichen Qualitäten in einem Sozialraum erschließen kann.

Methodentyp

Sonstige Methode

Altersgruppe:

8 - 99 Jahre

Gruppengröße:

2 - 20 Personen

Gruppeneigenschaften

Kinder
Jugendliche

Teilnehmerrekrutierung

feste Gruppen
offene Gruppen

Dauer

stundenweise auf mehre Wochen verteilt
ca. 1 Stunde

Ort

draußen

Anzahl Personal

1

Personal

Leitungsteam
Moderator/in

Vorbereitungsaufwand

gering

Beteiligungsart

Projektorientierte Verfahren der Partizipation

Beteiligungsstufe

niedrig

Ziele

Einblicke in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen erhalten
Einblicke in einen Sozialraum bekommen
mit Kindern und Jugendlichen in Dialog und Kontakt treten

inhaltlich offen

nein

Durchführung:

Festlegung der Beobachtungssegmente und methodische Utensilien.

Um Eindrücke vergleichbar zu machen ist es notwendig, Beobachtungsräume oder Segmente festzulegen und ggf. zu nummerieren. Dies gewährleistet erstens, dass Rund-gänge nicht nach dem Zufallsprinzip erfolgen, sondern dieselben Wege und Orte besucht werden sowie zweitens sowohl den systematischen Vergleich der verschiede-nen Wahrnehmungen der ModeratorInnen als auch den Situationsvergleich in verschie-denen Zeiträumen.
Zu Beginn des Projektes steht daher die Festlegung der Beobachtungssegmente, sprich Planquadrate, in denen die maximal 1 bis 1,5 stündigen Beobachtungsrundgänge stattfinden sollen. Dafür ist ein Plan im geeigneten Maßstab unerlässlich.
Auf diesem Plan, je nach Fläche im Maßstab 1 : 1000 bis 1 : 15000 werden zuerst die Beobachtungssegmente mit einem Marker nach regionalen und praktischen Kriterien, die durch infrastrukturelle Bedingungen wie Straßenzüge, Wohnblocks, Parks etc. bestimmt werden, eingetragen und in weiterer Folge Treffpunkte, Brennpunkte, Institu-tionen, Cliquen usw. mit verschiedenfarbigen Klebepunkten, Post-it’s und Zeichnungen markiert.
Die Begehungen sollten in Form von Begehungsprotokollen dokumentiert werden. Aus diesen können dann Cliquen-Beobachtungen in ein Cliquenportrait bzw. Jugendkulturenkataster übertragen werden, das mit Fortdauer der Beobachtungen immer wieder ergänzt werden kann.

Erste Phase: Der strukturierte Beobachtungsrundgang

Nun folgen am besten in Zweierteams die Beobachtungsrundgänge durch die Plan-quadrate, bei denen es nicht darum geht, jemanden sofort anzusprechen, sondern eine Einschätzung der sozialräumlichen Gegebenheiten zu erwerben. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen sind dabei wichtig, beispielsweise werden bestimmte Verhaltensweisen einer Clique von der Moderation unterschiedlich beobachtet und interpretiert. Von großer Bedeutung ist, diese Begehungen immer wieder zu anderen Zeitpunkten, also an einem anderen Wochentag zu einer anderen Tageszeit, unter der Woche und am Wochenende durchzuführen um vielschichtige Einblicke in die sozialräumlichen Gegebenheiten bestimmter Sozialräume zu erhalten. Diese werden dann bei den anschließenden Befragungen und Begehungen mit Jugendlichen mit deren subjektiven Einschätzungen verglichen.
Beim Beobachtungsrundgang sollte stets eine kleine Karte mitgeführt werden, auf der sich Beobachtungen eintragen lassen, ebenso ein Notizblock, ein Diktiergerät zum festhalten von Wahrnehmungen, eine Polaroidkamera etc.
Beobachtet werden sollte u.a. wo sich welche Personengruppen aufhalten, wo Kinder spielen, sich Cliquen treffen, was deren Betätigung ist. Lassen sich geheime Trefforte anhand bestimmter Graffitis erkennen? Welche Orte werden gemieden? Wo sind Mädchen anzutreffen? Welche Barrieren und Möglichkeiten ergeben sich durch die Bebauung, den Verkehr, die Lage von Freiflächen, Spielplätzen? usw.

Worauf man bei einem strukturierten Stadtteilrundgang die Aufmerksamkeit lenkt (U.Haschka, Wien, Auszug):
Dinge:
- sind die Häuser, Haltestellen, Wände angeschmiert? mit welchem Text ?
- Wie schauen die Misthäuser aus?
- Wie viel Schmutz liegt herum?
- Was ist alles kaputt (Mistkübel, Bänke, Spielplätze...)?
- Findet man Utensilien für Drogengebrauch?
- Wie (un-)gepflegt sind die Innenhöfe? (Blumen, Gartenzwerge,...)?
- Gibt es Zeichen von politischen Äußerungen (Hakenkreuze)?

Menschen:
- Wer ist im öffentlichen Raum (Welches Alter, welcher Migrationshin-tergrund, welches Geschlecht, Verweilende oder Passierende, und vieles mehr...)?
- Was machen die einzelnen miteinander (spielen, ausgrenzen, reden, dealen,...)
- Welche Sportarten werden auf den einzelnen Plätzen ausgeübt? Von wem?
- Wer hält sich auch bei Regen/Kälte im öffentlichen Raum auf?
- Öffentlicher Umgang mit Alkohol? Von wem?
- Befinden sich obdachlose Menschen im Gräuel? Wie wird mit diesen umge-gangen?

Stimmungen:
- Reden die Leute miteinander?
- Reden die unterschiedlichen Generationen miteinander?
- Findet eine Vermischung der Kulturen statt?
- Gibt es Wickel zwischen den Bewohnerinnen? Zwischen Welchen?
- Mischen sich die unterschiedlichen Generationen beim Spielen?
- Wie werden die Konflikte ausgetragen (Polizeidrohung versus Zivilcourage)?
- Welche Generation gewinnt die Plätzkämpfe, wenn es eng wird?
- Welche Gruppen bestimmen das Geschehen auf den öffentlichen Plätzen? (Alter, Migrationshintergrund, Geschlecht)
- Wer zeigt sich erst dann im öffentlichen Raum, wenn die „Capos“ besseres zu tun haben?
- Wie ist die Grundstimmung in Höfen etc.? Wie üblich sind rassistische/ aus-länderlnnenfeindliche/ sexistische Bemerkungen oder Beschimpfungen?
- Wie hoch ist der Aggressionspegel bei unabsichtlichen Zusammenstößen?
- Wie hilfsbereit sind die Leute miteinander?

Erkennung jener Orte, wo sich Jugendliche regelmäßig aufhalten:
- Orte, die Rückendeckung bieten (Plakatwände, Pavillons, Gerüste; zur Not zusammengeschobene Bänken
- viele Zigarettenstummeln
- Spuckflecken ( wenn sie noch nicht lange weg sind)
- Leere Zigarettenpackungen
- Zusammengeschobene Bänken
- Angemalte Bänke, Wände

Systematik für das gesamte Einsatzgebiet:
- Welche Wiesen sind bespielbar, welche sind zugeschissen?
- Wie ist der Zustand der Käfige? Was ist kaputt?
- Wie viele Spielplätze und für wen gibt es? Was ist kaputt? Für welche Gruppe gibt es keine Spielplätze?
- Wo sind dunkle Durchgänge, wo sich die Leute fürchten?
- Wo sind Straßen oder andere bauliche Barrieren, die Kinder/Teenies/Jugendliche daran hindern, ihren Sozialraum auszunützen?
- Hundeproblem?
- Welche Geschäfte/ Lokale gibt es im Grätzel, mit denen kooperiert werden kann (Sponsoring, Erleichterung der eigenen Arbeit)?
- Taubenproblem?
- Welche freien Plätze könnten für Großevents benützt werden?
- Welche Sportstätten gibt es? Welche geben Jugendlichen verbilligte Eintritte?

Schlüsse:Aus all diesen Beobachtungen ergeben sich logische Fragen:
- Wer ist unterstützungswürdig?
- Wer hat zuwenig Platz?
- Welche Sportart ist förderungswürdig?
- Welche Jugendliche sind (nicht) meine Zielgruppen?

Beobachten und interpretieren auch ohne Kinder und Jugendliche direkt zu sehen!

Eine wichtige Aufgabe der Beobachtung ist auch die Suche nach Aneignungsspuren von Kindern und Jugendlichen im Sozialraum, ohne diese selbst zu sehen. Dafür benö-tigen die Moderation nicht nur den Sherlock Holmes-Blick für die Details und Spuren, sondern auch einen "Colombo-Blick" für Situationen und Szenen im Ganzen und die Frage "was abgeht". So kann der Blick in Mülleimer, in öffentlichen Parkanlagen etwas darüber aussagen, wer sich auf bestimmten Spielplätzen trifft etc.

Zweite Stufe: Befragungsphase: Sozialraumbegehung mit Kindern und Jugendlichen

Die zweite Stufe der strukturierten Sozialraumbegehung stellt die Begehung dieser Planquadrate mit bekannten weiblichen und männlichen "Szenekindern und Jugendlichen" dar, die bestimmte Ausschnitte dieser Gegend sowie deren sozialräumliche Gegebenheiten kennen und auch gerne darüber berichten wollen.
Nun geht es darum, die vorangegangenen Eindrücke der Moderation mit den alltagsweltlichen Interpretationen der Kinder und Jugendlichen zu vergleichen.

Die Fragen an sie könnten sein:
Wo trefft ihr euch gerne, wo treffen sich die anderen, welche Cliquen sind an diesem Raum anzutreffen, welche Probleme und Affinitäten gibt es zwischen Cliquen, welche Orte erlauben was? (Bewegung, Sport, sich treffen, in der Nacht sitzen usw.) Welche Hindernisse und Hemmnisse ergeben sich bei der Aneignung dieser Räume? Was gefällt euch/dir am Stadtteil, was ist mühsam?

Bei der Begehung mit Kindern und Jugendlichen sollten die Moderation auf jeden Fall zu zweit sein, nur so kann sich der eine mit den Kindern und Jugendlichen auf ein Gespräch einlassen, während die andere Person die Aufgabe der Dokumentation und Beobachtung übernimmt.

Vorteile:

Ziel der Methode ist es, noch nicht umfangreiche Kommunikationszusammenhänge und Beteiligungen von Kindern und Jugendlichen in einem Sozialraum zu erreichen. Es geht vielmehr um die Wahrnehmung eines Sozialraums, um die Interpretation der unmittelbaren Eindrücke räumlicher und sozialer Strukturen: Man/frau sieht, hört, spricht, begegnet, nimmt wahr und wird natürlich auch wahrgenommen.

Nachteile:

Keine

Hinweise für Durchführung:

Die Anforderungen an die Begleitung sind durchaus anspruchsvoll, denn sie haben eine Beobachtungsaufgabe, die sich zunächst darauf beschränken muss, das wahrzunehmen, was sie sehen. Dies fällt insbesondere den Fachkräften der Jugendarbeit natürlicherweise nicht leicht, weil sie im Kontakt zu Kindern und Jugendlichen sofort an die "richtigen" Interventionsmethoden und Angebote denken, an Kontaktaufnahme und Beziehungsarbeit und die Frage, ob diese Kinder und Jugendlichen in die Einrichtung "passen".
Zunächst nur wahrzunehmen, was einerseits die stoffliche Gestaltung eines bestimmten Ortes ausmacht (eine/r der Beobachter/innen sollte sich auf diesen Aspekt konzentrieren), bedeutet, Farben, Formen, Oberflächen, Gestaltungselemente wahrzunehmen und diese auf sich wirken zu lassen. Die andere Person sollte sich sehr stark auf das Handeln von Menschen in bestimmten Situationen konzentrieren: Was kann man beobachten, was tun Kinder und Jugendliche, wie ist die Verbindung von Raumbezug und sozialer Situation?

Vorbereitungen:

Festlegung der Beobachtungssegmente,
diese in Planquadrate einteilen (im Maßstab 1 : 1000 bis 1 : 15000)

Benötigtes Material:

Kassettenrecorder und Diktiergeräte Polaroids oder andere Kameras
Notizblock, Klemmbrett, Stifte, Textmarker, Klebepunkte,
Stadt/Ortsplan - Planquadrate (im Maßstab 1 : 1000 bis 1 : 15000),
Begehungsprotokolle

Voraussetzungen am Veranstaltungsort:

Um Kinder und Jugendliche im öffentlichen Raum anzutreffen, eignen sich am besten Tage, an denen es nicht regnet. Die Methode ist tendenziell besser in den helleren, sommerlichen Monaten durchzuführen als im Winter.

Sonstiges:

Diese Methode ist keine direkte Beteiligungsmethode von Kindern und Jugendlichen, sondern eher eine Beobachtungsmethode, die als Vorarbeit im Rahmen einer Sozialraum-/ Lebensweltanalyse geleistet werden sollte. Sie öffnet die Augen für die sozialräumlichen Qualitäten eines Sozialraums/Dorfes/Stadtteils etc. und schafft erste Kontakte.

Die strukturierte Sozialraumbegehung steht am Beginn der intensiven Erschließung eines Sozialraumes. Nachdem dieses Projekt durchgeführt wurde, ist der Sozialraum eher verstehbar und es bestehen vermehrt Kontakte zu verschiedenen Cliquen, die erfahrungsgemäß durchaus akzeptieren, wenn für sie keine Angebote in Einrichtungen gemacht werden. Auch wenn dieses Verfahren zeitaufwendig ist, führt es in der Praxis zum Erwerb eines präzisen sozialräumlichen Verständnisses, welches die Grundlage für weitere Methoden wie z.B. eine Institutionenbefragung oder die Erstellung eines Jugendkulturenkatasters, Cliquenportrait etc. sein kann.
Natürlich können die beiden Analyseschritte Begehung und Befragung auch einzeln durchgeführt werden, allerdings ergeben sich erst in ihrer Kombination eine komplexe und dichte Beschreibung der sozialräumlichen Qualität eines Raumes.

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